Mutter unser

Zu diesem Gedicht gab es schon kontroverse Diskussionen. Aus diesem Grund
interessiert es mich sehr, wie Ihr es empfindet. Es ist "intuitiv" geschrieben
und vielleicht muss man es eher durchLESEN, als DURCHlesen :-) Es führt weg
von der rationalen Denke und wendet mit seinen Bildern ausschließlich an das
Gefühl. Es ist ein wenig provokant, richtet sich aber nicht an spezielle Personen.
Dies nur vorweg:

Mutter unser

Mutter unser
die du bist in der Zeit
man hört die Nadeln fallen
hinter dem Rauschen
der verbrauchten Stunden.
Sie fallen wie Steine.

Die eigene Brust entfernter
als meine ausgestreckte Hand
wer wird noch sagen können
wem sie gehörte
wenn auch sie fällt
als gelte es, die Erde zu spalten?
Ich werde den Tee wie immer trinken
und keine Schlucke üben.

Ein Mund voll Seife ist besser
als einer voll Dreck.
Wer sauber ist, hat Recht.
Und Dreck ist schließlich anderswo
als Tanten und Väter und Arbeitszeit.

Die Nadeln fallen wie Steine
herab auf die lachende Menge
als hätte jeder
kurz vor dem Aufprall
noch einen Witz zum Besten gegeben.
Sie fallen in bestellter Menge
herab auf wartende Schädel.

Mutter unser
dein ist die Schwäche
und die Ohnmacht
und die Dämlichkeit
in Endlichkeit.

Amen
Wanderluder - 20. Jun, 15:11

Mir gefällt dein Gedicht, besonders die Nadeln, die wie Steine fallen. Ein starkes Bild. Aber warum der Bezug zum Vaterunser? Aus meiner Sicht wäre dieser Bezug nicht notwendig, das Gedicht kann für sich stehen.

Eskorte fragile - 20. Jun, 16:55

@ wanderluder

freut mich, dass dir das gedicht gefällt. danke fürs lesen und kommentieren. ich hatte
an anderer stelle schon mal eine genaue erklärung beigefügt. sie ist allerdings in einem
geschlossenen forum. ich kopiere sie der einfachheit halber einfach mal hier rein,auch
wenn es etwas lang ist:

Zitat:
Mutter unser
die du bist in der Zeit
man hört die Nadeln fallen
hinter dem Rauschen
der verbrauchten Stunden.
Sie fallen wie Steine.



die mutter ist das symbol für erde, materie und endlichkeit im gegensatz zum vater, geist und der ewigkeit, den wir ja als "gott" aktzeptieren. gott ist männlich in unserer kultur. alles, was sich innerhalb der materiellen welt befindet, unterliegt der zeit und auch dem raum.

manchmal verbringen wir die zeit so, dass wir ständig beschäftigt sind. die stunden "rauschen" nur so vorbei. erinnert man sich später daran, was man getan hat, erscheint es manchmal so, als hätten wir gar nichts getan. gar nichts assoziierte ich mit "stille". in der stille hört man eine nadel fallen. die nadel aber ist auch eine vorstellung des besonderen, "die nadel im heuhaufen", das außergewöhnliche. doch eine nadel kann auch stechen. die vorstellung des besonderen fällt dem sein in der zeit zum opfer - sie fällt wie ein stein - oder da ich hier viele menschen meine - sie fallen wie die steine. etwas besonderes sein oder etwas außergewöhnliches tun ist also manchmal auch mit schmerz (stechen) verbunden. auch der mangel am besonderen kann schmerzen.

ich weiß, dass man das SO nicht darin lesen kann. man kann versuchen, es inutitiv zu erfassen, der verstand schafft es nicht. es wurde auch intiutiv verfasst.

Zitat:
Die eigene Brust entfernter
als meine ausgestreckte Hand
wer wird noch sagen können
wem sie gehörte
wenn auch sie fällt
als gelte es, die Erde zu spalten?
Ich werde den Tee wie immer trinken
und keine Schlucke üben.


wenn man ständig in beschäftigung ist (zumindest geht es mir so), entfernt man sich von sich selbst. was in der eigenen brust vor sich geht, ist entfernter, als das, was man mit den händen tut . beschäftigen assozierte ich mit hand = arbeit oder andere tätigkeiten.
wer wird also sagen können, wer wir sind und wer wir waren, was hat uns ausgemacht und unser dasein? wenn unsere brust und das "selbst" "fällt" ist es so, als hätten wir nicht gelebt. doch was tut der protagonist? er ändert nichts. er trinkt seinen tee wie immer und übt sich in ignoranz. er macht es sich bequem und tut so, als würde wäre das leben, dass er kennt, nicht begrenzt. auch ihn wird ein nadel-stein treffen (und somit ist das gedicht nicht nur gesellschafts- sondern auch selbstkritisch).

Zitat:
Ein Mund voll Seife ist besser
als einer voll Dreck.
Wer sauber ist, hat Recht.
Und Dreck ist schließlich anderswo
als Tanten und Väter und Arbeitszeit.


wir haben uns "ziviliert" und das in einem maße, dass wir uns nicht nur von uns selbst entfernen, sondern auch das dunkle meiden. dunkel ist hier gleichbedeutend mit unbewusst und verkörpert alles, was wir nicht leben, nicht an uns kennen. das assoziierte ich auch provokant mit "dreck". selbst im wortwörtlichen sinne meiden wir den dreck - und bevor einer fragt: nein - ich plädiere nicht dafür, dass wir im dreck leben sollten
der mund voll seife ist all das, was wir zu sein vorgeben - ein künstlicher geschmack - eigentlich nicht essbar und chemisch hergestellt. es erscheint uns erstrebenswerter "sauber" zu sein, zu gefallen. oder in bildern gesprochen: manchmal beißen wir lieber von einem stück seife ab, als das wir die wahrheit sagen. auch das könnte hier gelten. die symbolik ist noch weiter ausführbar. dreck und dunkles schieben wir lieber woanders hin - wir projezieren, dass sich die balken biegen. die tanten und die väter und die arbeitszeit ist der einzige rundumschlag in richtung familie, gesellschaft und all dem, was wir nach außen vorgeben zu sein oder zu haben.

Zitat:
Die Nadeln fallen wie Steine
herab auf die lachende Menge
als hätte jeder
kurz vor dem Aufprall
noch einen Witz zum Besten gegeben.
Sie fallen in bestellter Menge
herab auf wartende Schädel.


die vorstellung des besonderen, die des selbstes, stirbt mit der konsequenz meiner letzten erläuterungen zum thema wahrheit und maske. die nadeln schmerzen nur noch, genauso wie der verlust über das nicht erkannte und nicht gelebte selbst.
die lachende menge verdeutlicht die tragik der situation. unser leben ist endlich. doch obwohl wir es alle wissen, ignorieren wir den tod ebenso wie das dunkle - er scheint uns sogar dunkel, der tod und auch innerhalb der symbollehre steht er konträr zu licht und leben. er ist unbewusst, er ist verdrängt - individuell genauso wie gesellschaftlich. wir haben kein umgehen damit und sind überrascht, wenn sich ereignet, was wir unser ganzen leben lang wussten. der schmerz der fallenden nadeln = der gestorbenen möglichkeit, wir selbst zu sein und auch der schmerz der erkenntnis vielleicht...
ein jüdisches sprichwort sagt auch: "wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, bevor er stirbt." das meint in etwa das gleiche. das helle und das leben sind nur die halbe wahrheit. ignorieren wir andere, werden wir auch nur halbe menschen sein.

Zitat:
Mutter unser
dein ist die Schwäche
und die Ohnmacht
und die Dämlichkeit
in Endlichkeit.


die zeit (mutter ist das symbol für erde, materie und endlichkeit) erleben wir ohn-mächtig = ohne macht, machtlos also und damit schwach. die dämlichkeit war sicherlich provokant, letztendlich war es ein wortspiel zum gegensatz zu "herrlich", auch wenn dieser gegensatz vom sinn her nicht gegeben ist. dämlich ist so ein leben, entfernt von sich selbst trotzdem nicht weniger vor allem für einen selber.

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